Qualifizierung für Fachverfahren: Daueraufgabe für die Verwaltung?
Wer kennt das nicht? Erst holt man sich eine Grippe, dann kommt vom längeren Liegen auch noch „Rücken“ dazu. Bei Deutschlands Großvorhaben Verwaltungsmodernisierung läuft es gerade ganz ähnlich. Denn kaum steht fest, dass die ursprünglichen Ziele des Onlinezugangsgesetzes (OZG) verfehlt werden und noch größere Anstrengungen bei der Modernisierung der Schnittstelle zu den Bürger:innen erforderlich sind, rückt das Back-End in den Fokus, allem voran die Fachverfahren, mit deren Hilfe der Public Sector seine gesetzlichen Aufträge IT-gestützt erfüllt.
So regten die Vertretungen mehrerer Städte Mitte 2021 in den „Dresdner Forderungen“ an, das OZG als Treiber für eine durchgängige Verwaltungsdigitalisierung zu nutzen und die Kommunen durch moderne Fachverfahren zu entlasten. Und erst kürzlich meldeten sich auch die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft mit einem Positionspapier zu Wort. Mit Blick auf einen krisenfesten, innovationsfähigen Staat fordern sie unter anderem die konsequente elektronische Abwicklung von Behördenleistungen.
Elektronische Fachverfahren schaffen Mehrbelastung
Dass eine durchgängige Digitalisierung der in die Jahre gekommenen Fachverfahren gerade jetzt so vehement eingefordert wird, liegt nicht zuletzt an einer veränderten Erwartungshaltung. Denn wer BAföG, Baugenehmigung, Elterngeld oder Ummeldung auf einer Webseite im Internet beantragen kann, verspricht sich davon kürzere Bearbeitungszeiten und schnellere Bescheide.
Vielerorts ist aber genau das Gegenteil der Fall: Verfahren und Systeme sind technologisch veraltet. Zugleich sorgen Schriftformerfordernisse und die ausstehende Registermodernisierung dafür, dass selbst neu entwickelte Fachverfahren noch Medienbrüche aufweisen und nicht automatisiert ablaufen. Das heißt: Auch die Erwartungen der Mitarbeitenden an die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung haben sich bislang kaum erfüllt. Statt Mehrwert erleben sie in erster Linie mehr Komplexität, statt Entlastung eine spürbare Mehrbelastung.
Systematisierung der Fachverfahren entlastet
Erfreulich ist allerdings, wie Bund und Länder die zentrale Entwicklung von elektronischen Fachverfahren in Entwicklerverbünden bzw. nach dem Prinzip „Einer für Alles“ (EfA) vorantreiben. 16 Länder und rund 11.000 Gemeinden, bei denen teilweise mehrere Hundert Fachverfahren zur Anwendung kommen, müssen somit nicht selbst Lösungen entwickeln oder sich um deren Wartung kümmern. Durch diese Vorgehensweise können sie sie nachnutzen. Das spart nicht nur erhebliche Ressourcen, sondern sorgt auch für Standardisierung und Interoperabilität.
Ein Beispiel dafür ist das „Gemeinsame Fachverfahren“ für die Justiz, kurz GeFa. Es steht künftig den Justizmitarbeitenden der Gerichte und Staatsanwaltschaften in allen 16 Bundesländern zur Verfügung. Ebenfalls neu und sehr wirkungsvoll ist das Softwareprojekt MODUL-F vom Amt für IT und Digitalisierung in der Hamburger Senatskanzlei. Dabei handelt es sich um die Entwicklung eines zentralen Modulbaukastens mit Leistungsbausteinen, die von nachnutzenden Verwaltungen ab 2023 zu Dienstleistungen kombiniert werden können. Die Inhalte des Baukastens reichen von der Antragserfassung über die Bearbeitung bis zur Datenspeicherung im Archiv oder zur automatisierten Übergabe von Informationen an die E-Akte.
Eine Entlastung wird sich mit den Neuentwicklungen allerdings erst perspektivisch bemerkbar machen. Zudem müssen die IT-Fachverfahren immer wieder an geänderte Rechtsnormen, Abläufe und neue Schnittstellen angepasst werden. Über die einzelnen Mitarbeitenden hinaus sind damit auch die Behörden als Ganzes gefordert, sich immer wieder neu und möglichst schnell auf Änderungen bei den Anforderungen einzustellen – eine echte Herausforderung.
Markus Richter, CIO Bund
Haltung der Mitarbeitenden entscheidet
Die skizzierten Herausforderungen bei der Umsetzung zeigen: Technische Innovation allein ist keine Lösung. Denn egal ob veraltete Verfahren oder Vorgehensmodelle, neue EfA-Software oder Bund-Länder-Kooperation – immer wieder müssen die Mitarbeitenden in die Service-Applikationen eingearbeitet werden, damit eine korrekte Nutzung gewährleistet ist. Die Menschen in den Verwaltungen sind deshalb zentral für den Erfolg der Projekte. Mit ihrer Akzeptanz, ihrer Einstellung und ihren Fähigkeiten entscheiden sie letztlich darüber, wie gut die Einführung von modernisierten Fachanwendungen und der Umgang mit diesen Systemen gelingt.
Den Verantwortlichen in Bund und Ländern ist das durchaus bewusst. So sagte zum Beispiel der CIO Bund Markus Richter in einem Interview: „Es geht um Fähigkeiten, sich in sich schnell ändernden Sachverhalten zurechtzufinden, sich auf sie einzulassen, sie als Chance zu begreifen und Dinge zu gestalten.“ Ähnlich sieht es auch in Behörden aus. In der Regel begleiten sie die Einführung neuer IT-Fachverfahren mit elektronischen Qualifizierungsangeboten, um eine sichere Umsetzung der elektronischen Fachanwendung zu gewährleisten. Dennoch ist fraglich, ob diese punktuelle Unterstützung selbst in hoher Schlagzahl ausreicht. Denn die Mitarbeitenden kommen ständig mit Neuerungen oder geänderten Inhalten in Berührung, und wenn ihnen wichtige Informationen für die Weiterarbeit fehlen, müssen sie ihre Aufgaben immer wieder unterbrechen.
Anforderungen an Qualifizierung sind komplex
Wesentlich zielführender, um die nötige Agilität zu erreichen, ist es, die Verantwortung für Weiterbildung in den öffentlichen Verwaltungen stärker in Richtung Mitarbeitende zu verlagern. So wird das Thema technische und fachliche Qualifizierung nicht zur Dauerbaustelle, und die Schulungsbelastung bleibt erträglich. Schließlich stellen gerade die Fachverfahren besonders komplexe Anforderungen an Schulungen:
- Je nach Einsatzgebiet des IT-Fachverfahrens umfasst die Zielgruppe einzelne Personen oder auch ganze Abteilungen.
- Der Schulungsbedarf ist hochgradig individuell, weil die Mitarbeitenden für unterschiedliche Teilaufgaben einer Verwaltungsleistung verantwortlich sind – von der Bearbeitung bis zur Archivierung.
- Prozessschulungen können nicht nach dem „One size fits all“-Modell erfolgen, weil Abläufe sehr unterschiedlich definiert sind – manchmal übergreifend, manchmal aber auch nur referats- oder abteilungsweit.
Mitarbeitende für neue Geschäftsprozesse gewinnen
Mut zu mehr Selbstorganisation, Selbstmanagement und Eigenverantwortung setzt voraus, dass die Mitarbeitenden verstehen, in welchem Kontext Modernisierungen stattfinden und was der damit verbundene Wandel konkret für sie bedeutet. Um den Einsatz von elektronischen Fachverfahren in vollem Umfang anzunehmen und ihn aktiv zu unterstützen, sollten sie frühzeitig informiert werden, am besten vom Management. Sie wollen wissen:
- Warum werden die bisherigen Fachverfahren gegen unter Umständen stark vereinfachte Geschäftsprozesse ausgetauscht? Welchen Mehrwert bieten neue Fachverfahren, und welche Vorteile habe ich persönlich von der Nutzung?
- Was für neue Prozesse und Aufgaben sind mit den elektronischen Fachverfahren auszuführen? Gibt es fachliche Veränderungen?
- Wie verändern sich durch die neuen Fachverfahren die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten für mich ganz persönlich?
Durch die strukturierte Beantwortung dieser Fragen im Rahmen eines Schulungs- und Kommunikationskonzepts lassen sich Ängste abbauen und Perspektiven aufzeigen. Zugleich fördert diese Vorgehensweise auch die Motivation, den Umgang mit Neuem zu lernen und innovative Formen der Zusammenarbeit auszuprobieren.
Neue Fachverfahren erfordern neue Qualifizierungsstrategien
Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen liefert außerdem eine solide Basis für eine Bildungsbedarfsanalyse. So lassen sich die Qualifizierungsbausteine identifizieren, die nötig sind, um neue Fachverfahren erfolgreich einzuführen. Üblicherweise nutzen Behörden hier einen Mix aus klassischen und elektronischen Trainingsformaten in Form von Blended Learnings, die Tendenz geht jedoch eindeutig zu virtuellen Schulungsformaten wie Web-based Trainings oder Virtual Classrooms. Das Ende der Qualifizierungs-Fahnenstange ist aber auch damit längst nicht erreicht, es geht noch innovativer.
So setzen immer mehr Organisationen aller Branchen und Größenordnungen zusätzlich auf intelligente Plattformen, die die Digital Adoption, also die Akzeptanz von neuen Technologien, Prozessen und neuer Software, fördern. Die Plattformen bilden langfristig eine Basis, um vorhandenes Wissen zu zentralisieren und den Nutzer:innen die Informationen genau dann bereitzustellen, wenn sie sie benötigen – im Rahmen der individuellen Rolle und jeweiligen Aufgabe.
Digital Adoption Platforms: der Turbo der Fachverfahren
Der entscheidende Mehrwert solch einer Digital Adoption Platform (DAP) liegt darin, dass sie die Weiterbildung an den Arbeitsplatz bringt und weitgehend in die Hände der Mitarbeitenden legt. Dadurch lassen sich Schulungsaufwand und Schulungsbelastung vor dem Roll-out erheblich reduzieren. Gleichzeitig erhalten die Nutzer:innen zu jeder Zeit, in jeder Anwendung, im Büro oder im Homeoffice genau die Informationen, die sie gerade benötigen, etwa in Form von Schrittlisten, Prozess-Guidance, Dokumentationen oder hilfreichen Tipps.
DAPs sind also so etwas wie der Turbo für die digitale Transformation. Deshalb sprechen sich auch führende Analyst:innen und Unternehmensberatungen für den verstärkten Einsatz der Plattformen aus. So heißt es zum Beispiel im 2022 publizierten „Market Guide for Digital Adoption Platforms“ von Gartner: „Organisationen, die den digitalen Wandel beschleunigen wollen, müssen Mitarbeitende in die Lage versetzen, neue und sich verändernde Technologien problemlos zu übernehmen. Softwareverantwortliche sollten Anbieter von Digital Adoption Platforms prüfen, die es Mitarbeitern und/oder Kunden ermöglichen, Technologien besser anzunehmen und auf einem höheren Bedienlevel zu nutzen.“
Natürlich gibt es auch Gründe, die gegen den Einsatz einer Digital Adoption Platform bei der Verwaltungsmodernisierung sprechen, allen voran beschränkte Haushaltsmittel und fehlende personelle Ausstattung in den öffentlichen Verwaltungen. Anderseits bleibt keine Zeit für langes Zaudern und halbgare Lösungen. Dass Behörden bereit sind, alte Zöpfe abzuschneiden, haben sie schon oft bewiesen. Vielleicht sind sie ja auch bereit, beim Thema Weiterbildung echte Innovation zu wagen.