Echte Agilität – ein Luftschloss?
Wer echte Agilität erreichen will, rüttelt damit auch an den gewohnten Prinzipien des Arbeitsalltags. Anstatt wie bisher „top-down“ zu agieren, erfordert wahre Agilität ein Umdenken hin zu „bottom-up“. Die Vision: Das Team – und nicht das Management – wird zum Herzstück der Agilität. Es kollaboriert sowohl intern als auch mit dem Kunden und entwickelt dadurch selbst gesteuert Lösungen für dessen Probleme. Entscheidungen trifft das Team autonom, und natürlich trägt es dafür auch selbst die Verantwortung.
Agilität bedeutet Privilegienverlust
Was einerseits positiv klingt, ruft andererseits zahlreiche Ängste auf den Plan. Denn wer Agilität konsequent denkt, gefährdet lieb gewonnene Hierarchien, bestehende Wissenssilos und kontrollierende Kommissionen. Hinzu kommt, dass genau diejenigen, die die das Umdenken im Unternehmen vorantreiben müssten, auch jene sind, die an Einfluss einbüßen. Und wer verzichtet schon gerne auf Privilegien?
Agilität erhöht die Verbindlichkeit
Gleichzeitig erhöht eine agile Arbeitsweise aber den Druck auf das Team, denn anders als bei klassischen Ansätzen können sich Einzelne nicht mehr hinter Prozessen verstecken. Sie spüren plötzlich das große Maß an Verantwortung, das sie tragen, und damit nimmt auch die Verbindlichkeit zu. Außerdem werden Probleme sehr schnell sichtbar und werden dann auch im Team thematisiert. Echte Agilität hat schließlich nichts mit „Feelgood Management“ zu tun, ist sie doch niemals Selbstzweck. Stattdessen stellt sie konkrete Ziele in den Vordergrund – und an denen muss sich das Team am Ende auch messen lassen.
Agilität als Leuchtturmprojekt?
Vielleicht haben Sie beim Lesen dieser Zeilen zunächst an Softwareentwicklung gedacht oder an bestimmte Leuchtturmprojekte, in denen Mitarbeiter ihren agilen Ansprüchen frönen dürfen. Vielleicht nehmen Sie an, dass Agilität nur in klar abgegrenzten Bereichen funktionieren kann. Doch genau das Gegenteil ist der Fall – und das ganz ohne das Ausrufen einer unternehmensweiten „agilen Strategie“ oder die Einführung von Scrum.
Die Grundidee: bottom-up
Auf dem Weg zur echten Agilität geht es vor allem um die Berücksichtigung von Bottom-up-Ansätzen. Unternehmen müssen ihre Scheu ablegen. Sie müssen ihren Mitarbeitenden die Möglichkeit geben, sich selbst gesteuert gegenseitig zu unterstützen, um Kundenprobleme zu lösen.
Ein Beispiel: Zahlreiche Unternehmen investieren Geld und Zeit in Trainings und Performance Support. Damit stellen sie den Mitarbeitenden von zentraler Stelle aus Informationen und Job-Aids zu konkreten Arbeitssituationen im Bedarfsmoment zur Verfügung. Doch können sie sicher sein, dass die Hilfsangebote auch relevant sind für die Arbeit „da draußen“? Kann eine Personalabteilung oder Akademie tatsächlich beurteilen, welche Unterstützung die Mitarbeitenden an all den verschiedenen Arbeitsplätzen und mit all den unterschiedlichen Wissensbedarfen brauchen?
Wissen teilen, sich gegenseitig unterstützen
Die ehrliche Antwort auf diese Frage wird „Nein“ lauten müssen. Daher müssen die Unternehmen ihren Angestellten eine Stimme geben und ihnen ermöglichen, sich selbstbestimmt und unbürokratisch gegenseitig zu unterstützen, Wissen zu teilen oder gemeinsam Probleme zu lösen - ohne dass Chefetagen der Versuchung erliegen, diese Ansätze zu kontrollieren oder mit Argwohn zu begutachten. Und das ist in erster Linie keine Frage der Technik, sondern eine Frage der Kultur.
Wissen ist wertvoll
Sie fragen sich, warum ein Unternehmen diesen Schritt wagen sollte? Zum einen, weil das Wissen der Mitarbeitenden über das Unternehmen, seine Produkte und Prozesse signifikant ist. Zum anderen, weil das Verständnis der Mitarbeitenden für die Probleme und Wünsche der Kunden ein wertvolles Gut ist, das die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens sichert.
Teams, die an vorderster Front arbeiten, wissen, ob Richtlinien, Abläufe und Produkte bei den Kunden Anklang finden. Sie sind deshalb auch diejenigen, die – sofern sie die Möglichkeit dazu bekommen – mit ihrer Expertise Lösungen entwickeln und Verbesserungen vornehmen können. Selbst gesteuert, eigenverantwortlich und gemeinsam, ganz im Sinne eines Bottom-up-Ansatzes und ganz ohne auch nur einmal das Wort „agil“ benutzt zu haben.
Eigenverantwortung und Vertrauen
Es geht bei richtig verstandener Agilität also darum, dem Team zu vertrauen und ihm mehr Eigenverantwortung zuzugestehen – ohne kontrollierenden Eingriff von außen. Natürlich bedeutet dieses Umdenken auch ein Risiko. Aber sollte diese Vision deshalb ein Luftschloss bleiben? Denn was geschieht, wenn ein Unternehmen seinen Wettbewerbsvorteil verliert, weil es am „Command and Control“ der industriellen Welt festhält und nicht „agil” auf die VUCA-Welt von heute reagieren kann?