Implementierungsprojekt oder Rapid Deployment Solution?
Ob IT-Experten manchmal leise weinen, wenn gerade keiner hinsieht? Vermutlich ist es so, und vermutlich war es auch so, als SAP vor etwa zehn Jahren der staunenden Fachwelt erstmals das Konzept der neuen Rapid Deployment Solutions (RDS) vorstellte: Wäre diese Lösung doch nur ein Jahr vor der letzten, mehr oder weniger abgeschlossenen Softwareimplementierung verfügbar gewesen, dürften damals einige gedacht haben, wie viel Zeit, Geld und schlaflose Nächte hätte man sich und anderen sparen können!
Schnellboot statt Großtanker
Eine Dekade später ist es ruhiger geworden um die Schnellstartlösungen, wie die SAP Rapid Deployment Solutions auch genannt werden; selbst bei Google sind relevante Treffer schwer zu finden, obwohl das Thema digitale Transformation aktuell in aller Munde ist. Dabei stellen sie eine kleine Revolution im SAP-Kosmos dar, weil das Unternehmen damit neben den klassischen Lösungs-„Großtankern“ inzwischen weit über 150 Software-„Schnellboote“ im Portfolio hat, die nicht erst nach Monaten betriebsbereit sind, sondern schon innerhalb weniger Wochen implementiert sind und produktiv genutzt werden können.
Zwar stellen die Schnellstartlösungen in manchen Fällen einen geringeren Funktionsumfang zur Verfügung als die entsprechende „große“ Unternehmensanwendung von SAP, dafür bieten sie dem Kunden aber etwas, das in einem volatilen, für Disruptionen anfälligen Markt zum überlebenswichtigen Vorteil werden kann: Zeitgewinn für eine agile, punktuelle Business- und Marktanpassung.
Man könnte meinen, dass die SAP Rapid Deployment Solutions damit automatisch die erste Wahl sind. Doch ganz so einfach ist das nicht. Schnellboot oder Großtanker – die Entscheidung hängt von mehreren Faktoren ab.
Was ist eine Rapid-Deployment-Lösung?
Die Rapid Deployment Solutions sind modulare, vorkonfigurierte Lösungen mit einem klar definierten Funktionsumfang zum Festpreis. Sie lassen sich innerhalb der großen Unternehmensanwendungen nutzen, beispielsweise in SAP S/4HANA, SAP SuccessFactors, SAP ERP, SAP ECC oder SAP CRM. Genauso gut sind die von SAP oder SAP-Partnern stammenden RDS aber auch ohne die genannten Unternehmensanwendungen lauffähig. Bei ihnen handelt es sich um vollständige Lösungen, die sich anpassen, erweitern und miteinander kombinieren lassen.
Dank der integrierten, vorkonfigurierten Bestandteile ist solch eine Lösung erheblich schneller betriebsbereit als eine herkömmliche Implementierung. Denn im Funktionsumfang sind auch diverse „Beschleuniger“ enthalten. Dazu gehören
- Best Practices und vorkonfigurierte Inhalte, die etwa 60 bis 70 Prozent des kundenspezifischen Bedarfs erfüllen
- eine standardisierte Bereitstellungsmethodik inklusive Step-by-Step-Guide
- vorgefertigte Leitfäden und Schulungsunterlagen für die User Adoption
Solution out of the box
SAP selbst beziffert die Zeitersparnis im Vergleich zu einem herkömmlichen Projekt ähnlichen Umfangs mit mindestens 40 Prozent, bei etlichen SAP Rapid Deployment Solutions fällt sie aber auch erheblich größer aus. Unternehmen, die mobile Anwendungen, In-Memory-Computing, analytische Funktionen oder Talent Management per Schnellstartlösung einführen, profitieren also von einer verhältnismäßig einfachen Möglichkeit, innovative Geschäftsprozesse in die eigene DNA zu integrieren. Mit unvorhergesehenen Problemen müssen Kunden dabei nicht rechnen, denn aufwändiges Testing und endlose Abstimmungsrunden entfallen – nach der Bereitstellung ist die SAP-Software sofort startklar.
Vor allem für Anwendungen wie SAP SuccessFactors oder SAP S/4HANA sind die Schnellstartlösungen bei Kunden eine beliebte Alternative zu herkömmlichen Projekten. So gibt es Best-Practice-Inhalte wie beispielsweise ein Out-of-the-Box Kompetenzkatalog bei der SAP SuccessFactors Recruiting Suite, um Kompetenzen für Stellen zu hinterlegen und kompetenzbasierte Interviewgespräche zu führen. Unternehmen sparen sich damit die aufwändige Entwicklung eines eigenen Kompetenzkatalogs.
Bereitstellung on premise, in der Hybrid Cloud oder per Hosting
Die meisten Rapid Deployment Solutions sind in der Cloud verfügbar, werden auch dort installiert und lassen sich anschließend problemlos on premise nutzen.
Komfortabler und selbst bei höheren Compliance-Anforderungen ein guter Kompromiss ist es, die Rapid Deployment Solutions in einer Hybrid-Cloud-Umgebung einzusetzen. Eine Hybrid Cloud kombiniert Private-Cloud- mit Public-Cloud-Landschaften. Auf diese Weise kann ein Unternehmen zum Beispiel für die Speicherung und Verarbeitung von sensiblen Daten die eigene Infrastruktur nutzen, gleichzeitig aber Infrastruktur- und Plattformservices (IaaS und PaaS) von Hosting-Anbietern und Public-Cloud-Providern buchen und flexibel skalieren. Damit spart es sich unter anderem den Aufwand für Updates und Upgrades.
Das gilt natürlich gerade dann, wenn die SAP Rapid Deployment Solutions in der Cloud von einem SAP-Partnern bereitgestellt werden. SAP-Partner verfügen oft über zusätzliche Sicherheitstechnologien beim Hosting oder übernehmen die nicht ganz einfache Aufgabe des RDS-Managements innerhalb von hybriden IT-Strukturen. Dem Kunden erleichtern sie damit sowohl den Umstieg wie auch die Systemintegration.
Einzigartigkeit statt Standard oder Wenn RDS keine Lösung ist
Das alles mag nach schöner, neuer Softwarewelt klingen, und im Grunde ist es das auch – nur eben nicht in jedem Fall. Vor allem hochkomplexe Unternehmen mit vielen Spezialanforderungen profitieren nach wie vor von einer klassischen Implementierung, bei der die Software technisch vollständig an die in der Firma vorhandenen Rollen und Prozesse angepasst wird.
Clever und gut gemacht, lassen sich mit der Nutzung individualisierter Software abseits vom Standard entscheidende Wettbewerbsvorteile erzielen, die allerdings auch ihren Preis haben. Schließlich müssen Berater, Fach- und IT-Abteilung im Vorfeld alle bestehenden Prozesse analysieren und unternehmensweit harmonisieren, bevor die SAP-Lösung implementiert und angepasst werden kann.
Viele Unternehmen nehmen die mit einer klassischen Implementierung verbundenen Kosten und Risiken gerne in Kauf, weil sie glauben, dass sich Unternehmensstrategie und -vision nicht über eine Standardlösung abbilden lassen, ohne ihre Einzigartigkeit einzubüßen. Oft stimmt das auch, aber längst nicht immer. Selbst ein großer Konzern mit zahlreichen Niederlassungen und Tochtergesellschaften muss nicht jedes System individualisieren, sondern kann in dem ein oder anderen Prozess auch mit der passenden Rapid Deployment Solution auf neue Geschäftsanforderungen reagieren. Bestes Beispiel dafür: ein hochspezialisiertes Pharmaunternehmen, das seine individualisierte HR-Anwendung um eine RDS für das Talent Management erweitert und die es bei Bedarf nachträglich jederzeit individualisieren kann.
Ein Widerspruch, der gar keiner ist
So gesehen löst sich der vermeintliche Widerspruch zwischen dem Thema Individualisierung einerseits und dem Thema Standardisierung andererseits schnell auf. Außerdem sollte man bedenken, dass die in den SAP RDS enthaltenen Best Practices – etwa für Einkauf, Controlling, Logistik, HR, Data Analytics oder ERP – in den meisten Fällen wesentlich effizienter sind als individuell angepasste Prozesse und die Gefahr einer schleichenden Abkopplung vom Markt verringern.
Angesichts der niedrigen Einstiegshürden macht es deshalb durchaus Sinn, die Prozesse und Systeme im eigenen Unternehmen ausfindig zu machen, die keinem Individualisierungszwang unterliegen und hier innerhalb kürzester Zeit eine Rapid Deployment Solution mit standardisierten Best Practices zu starten. Während der Fachbereich dann diese Lösung im täglichen Business erfolgreich im Einsatz hat, lässt sich die Applikation im Hintergrund auf der Basis von User Feedback individualisieren oder um weitere RDS-Lösungen ergänzen – ein Umstieg zu kalkulierbaren Kosten, risikoarm und schneller als mit jeder Big-Bang-Implementierung. Zugegeben: Auch das könnte IT-Profis zum Weinen bringen. Diesmal aber vor Freude.