Informelles Lernen: Fünf Tipps zum erfolgreichen Kompetenzaufbau
Ein Großteil des Lernens in Unternehmen passiert spontan und unstrukturiert, etwa wenn Mitarbeitende sich herausfordernden Aufgaben stellen, Neues ausprobieren (Erfahrungslernen) oder sich untereinander austauschen. Genau das macht informelle Lernprozesse unverzichtbar für Organisationen, die anpassungsfähig bleiben wollen. Statt isoliert von unserem Arbeitskontext zu lernen, suchen wir immer dann nach neuem Wissen, wenn wir es brauchen. Wir lernen situations- und bedarfsgerecht, indem wir zum Beispiel bei einer konkreten Frage im Internet recherchieren, in Wikipedia nachlesen oder bei den Kolleg:innen nebenan um Rat bitten.
Das deckt sich im Großen und Ganzen mit der auf Lombardo und Eichinger zurückgehenden „70-20-10-Modell“. Demnach erfolgen nur zehn Prozent des Lernens durch formale Lernangebote wie E-Learning oder Training. Den größten Teil unserer Kompetenzen bauen wir dann auf, wenn wir eigene Erfahrungen machen (Learning by Doing), Probleme aktiv bewältigen oder ein Thema erarbeiten und uns darüber mit anderen austauschen. Auch wenn das 70-20-10-Modell grob vereinfachend und zu Recht umstritten ist, besteht allgemeiner Konsens darüber: Informelles Lernen am Arbeitsplatz ist die häufigste Form des beruflichen Lernens.
Definition: Informelles vs. formales Lernen
Um das informelle Lernen im Unternehmen bestmöglich fördern zu können, ist es wichtig, zu wissen, was überhaupt hinter dem Begriff steckt und wie die Lernform funktioniert. In einer Definition von 2001 unterscheidet die Europäische Kommission zwischen den Begriffen „formalem“, „non-formalem“ und „informellem“ Lernen.
Sowohl non-formales als auch formales Lernen finden in strukturierten Formaten der Weiterbildung statt. Während formales Lernen jedoch einen Berufs- oder Bildungsabschluss bzw. eine Zertifizierung beinhaltet, entfällt dies beim non-formalen Lernen. Der Begriff „informelles Lernen“ bezeichnet alles Übrige, alles Lernen also, das außerhalb des Rahmens formaler Angebote der beruflichen Bildung passiert.
Charakteristisch für informelle Lernprozesse am Arbeitsplatz sind die folgenden Merkmale:
- Es handelt sich um ein selbstgesteuertes Lernen, jedoch nicht um ein implizites Lernen, wie es häufig im Alltag oder in der Freizeit vorkommt.
- Das Lernen erfolgt spontan und reaktiv in Bezug auf Herausforderungen, die im Arbeitsprozess auftreten.
- Das Lernziel ist der schnelle, situative und individuelle Aufbau von Wissen und Kompetenzen zur Lösung eines speziellen Problems.
- Das erworbene Wissen bzw. die erworbenen Kompetenzen werden direkt am Arbeitsplatz angewendet. Durch den unmittelbaren Kontext prägen sich die Informationen oft besser ein als z. B. Lernstoff, der im Rahmen einer beruflichen Weiterbildung vermittelt wurde.
Im Unterschied zu formalen Lernformen kann informelles Lernen in fast jeder Situation stattfinden: in digitalen Foren, im Büro, in der Kaffeeküche, auf dem Flur, an der Produktionsmaschine, auf der Rampe im Lager, durch das Schauen von öffentlich zugänglichen Videos oder das Nachlesen in Wikipedia. Die Anlässe ergeben sich bei dieser Form der Weiterbildung meist spontan, z. B. beim Austausch über die Arbeit, schwierige Projektkonstellationen oder eine neue Software. Sie beginnen zum Beispiel mit der Bitte: „Ich bräuchte mal deine Hilfe“ oder mit dem Angebot: „Ich zeige dir mal, wie ich das mache.“
Warum ist informelles Lernen wichtig?
Diese Lernform ermöglicht den Mitarbeitenden, das zu lernen, was sie brauchen – beispielsweise, weil es (noch) keine formalen Lernangebote im Unternehmen dafür gibt. Denn L&D, Personalentwicklung oder Learning Academies können Lernangebote gar nicht so schnell und so diversifiziert bereitstellen, wie es die sich schnell wandelnden Anforderungen der modernen Arbeitswelt erfordern.
Das hat auch die Coronapandemie eindrucksvoll gezeigt. Viele Mitarbeitende sind von heute auf morgen ins Homeoffice gewechselt und haben ad hoc begonnen, ihren Arbeitsalltag über digital gestützte Kommunikations- und Kollaborationsformen zu organisieren. Obwohl ein beträchtlicher Anteil der Belegschaft vorher keinen Bezug zu solchen Arbeitsweisen hatte und es kaum formale Angebote zur Weiterbildung gab, klappte der Umstieg in den meisten Unternehmen erstaunlich gut. Die Betroffenen haben sich offensichtlich viel selbst erarbeitet – und das innerhalb kürzester Zeit.
Vorteile von informellem Lernen
Empirische Studien verweisen im Zusammenhang mit informellen Lernprozessen auf die folgenden Vorteile:
- Flexibel und nah am Bedarf der Mitarbeitenden. Formale Trainings oder Lernmodule müssen oftmals weit im Voraus geplant oder entwickelt werden. Ein Video auf einer Plattform anschauen oder Kolleg:innen fragen, das funktioniert spontan.
- Erleichterter Praxistransfer der Lernergebnisse, da der Lernprozess on demand erfolgt. Beim formalen Lernen wird hingegen auf Vorrat gelernt, egal ob das Wissen akut benötigt wird oder nicht.
- Fördern der Innovationsfähigkeit. Durch den Austausch mit anderen Lernenden oder das Nutzen von Lernmöglichkeiten außerhalb der Organisation werden Erkenntnisse und Erfahrungen an den eigenen Arbeitsplatz gebracht, wo sie Verbesserungen oder neue Lösungen anstoßen können.
- In der Regel kostengünstig, da es keiner aufwendigen Planung bedarf und auch kein Kursmaterial bereitgestellt oder (externes) Lehrpersonal eingebunden werden muss.
Aber: Nicht in allen Bereichen der beruflichen Weiterbildung können informelle Lernaktivitäten eine gleichermaßen hohe Relevanz und Wirksamkeit entfalten. Vor allem bei Tätigkeiten, die durch strenge Standards reguliert sind oder wo kleinste Abweichungen vom Standardprozess weitreichende Folgen haben können, z. B. in der Luftfahrt oder im Gesundheitswesen, ist formales Lernen im Rahmen der beruflichen Bildung unverzichtbar, ein Nachweis der entsprechenden Kompetenzen und des notwendigen Know-hows ist obligatorisch.
Informelles Lernen ist kein Selbstläufer
Die genannten Erkenntnisse und Vorteile haben dazu geführt, dass sich inzwischen viele Unternehmen mit dem Thema informelles Lernen beschäftigen – allerdings nicht immer erfolgreich. Beispielsweise wenn im Kielwasser von 70-20-10 davon ausgegangen wird, dass informelles Lernen von den Mitarbeitenden komplett selbst organisiert werden kann oder automatisch „passiert“. Die Praxis zeigt: Die Verantwortung auf die Mitarbeitenden abzuwälzen, das ist kein adäquater Ansatz. In der Hektik des beruflichen Alltags bleibt selten Raum für informelles Lernen, sodass sich die Mitarbeitenden im schlimmsten Fall gezwungen sehen, nach Feierabend bzw. in der Freizeit für die Arbeit zu lernen.
Damit informelles Lernen gelingt, braucht es geeignete Strukturen. Ein erster Schritt kann daher sein, sich mit den organisationalen Rahmenbedingungen auseinanderzusetzen und zu fragen: Wie behindern wir die Mitarbeitenden möglichst wenig beim Lernen?
Hindernisse aus dem Weg räumen
Ein weit verbreitetes Missverständnis ist es, selbstgesteuertes informelles Lernen mit Zeitvertreib oder Ineffizienz gleichzusetzen. Da heißt es etwa: „Der oder die guckt schon wieder ein Video oder tratscht mit den Kolleg:innen, anstatt zu arbeiten.“ Hier braucht es ein Umdenken. Nur wenn den Mitarbeitenden das nötige Vertrauen entgegengebracht wird und sie Möglichkeiten erhalten, sich die Unterstützung zu beschaffen, die sie zum Erledigen ihrer Aufgaben benötigen, kann informelles Lernen gelingen.
Ein anderes Hemmnis können bestimmte Formen von Vergütungs- oder Bonussystemen sein, in denen das Abarbeiten von Aufgaben in Konkurrenz zum Lernprozess tritt. Hier lässt sich auch nicht gegensteuern, indem – in bester Absicht – die Mitarbeitenden Zeitkontingente für informellen Kompetenzaufbau erhalten nach dem Motto: „Jede:r Mitarbeitende soll zwei Stunden pro Woche selbstgesteuert lernen“. Der Konflikt zwischen incentiviertem Arbeitsoutput und verordneten „Lerntagen“ oder „Lernzeit-Zählern“ wird dadurch nicht aufgehoben. Die Folge: Die Betroffenen empfinden das verordnete Lernen als Belastung oder Störung ihrer Arbeit. Im schlimmsten Fall wird Lernen simuliert, während gleichzeitig unterm Radar die anfallenden Aufgaben abgearbeitet werden.
Fünf Tipps: Die richtigen Rahmenbedingungen schaffen
Was also tun, wenn sich informelles Lernen nun einmal weder erzwingen lässt noch dem Zufall überlassen werden kann? Wie finden Unternehmen hier die nötige Balance?
Dies gelingt nur indirekt über das Schaffen lernförderlicher Rahmenbedingungen:
- Technische Infrastruktur bereitstellen. Wurde früher der Zugang zu informellen Lernressourcen häufig ganz gesperrt, wird heute oft ein Mittelweg gewählt. So werden beispielsweise über eine Learning-Experience-Plattform (LXP) kuratierte Inhalte wie Podcasts, TED-Talk-Videos oder E-Books angeboten, unter denen die Mitarbeitenden frei wählen können.
- Dialogräume anbieten für den ergebnisoffenen Austausch von Erfahrungen, Wissen oder Meinungen. Es kann sich dabei um einen Gesprächsraum in der Produktionshalle handeln, in dem Mitarbeitende aus verschiedenen Bereichen Zeit und Ruhe zur Reflexion der eigenen Arbeit erhalten. Solche Räume können auch virtuell stattfinden und als Plattform dienen, um auszuprobieren, Feedback einzuholen oder zu geben, neue Denkpfade zu erschließen oder das Lösungsrepertoire zu erweitern.
- Informelles Wissen teilen. Das Teilen von informell erworbenen Kompetenzen macht deren Wert sichtbar und für andere Mitarbeitende verfügbar. Für die Weitergabe von Wissen und Erfahrungen eignen sich beispielsweise nutzergenerierte Blogs oder interne Wikis. Eine weitere Möglichkeit, den informellen Erfahrungsaustausch zu unterstützen, sind regelmäßige Retrospektiven über die Art der Zusammenarbeit, beispielsweise in Form von Feedback-Runden.
- Coaching und Peer-to-Peer-Learning initiieren. Mitarbeitende, die auf einem Gebiet besonders bewandert sind, können bestärkt werden, ihre Kolleg:innen als Lernexpert:innen zu unterstützen. Beim Peer-to-Peer-Learning tauschen sich Mitarbeitende über schwierige oder kontroverse Themen aus, um gemeinsam Lösungswege zu erarbeiten.
- Kultur des Lernens stärken. Menschen lernen aus Irrtümern. Daher ist es zentral, dass diese im Lern- und Arbeitsprozess erkannt, gemeinsam reflektiert und zur Verbesserung der Lern- und Arbeitsprozesse genutzt werden können. Die Voraussetzungen dafür sind ein konstruktiver Umgang mit Misserfolgen und Strukturen, die die psychologische Sicherheit am Arbeitsplatz fördern. Dann wird Arbeitskultur zu echter Lernkultur.
Informelles Lernen ist kein „Allheilmittel“
Informelles Lernen am Arbeitsplatz wird nur dann nachhaltig gedeihen, wenn sich die Wertschätzung gegenüber dieser Form der Weiterbildung und die Einsicht, wie sie funktioniert, weiterentwickeln. Denn das Lernen im Unternehmen ist ein fragiles Biotop, das durch falsche Eingriffe leicht aus dem Gleichgewicht gebracht werden kann.
Trotz der Vorteile des informellen Lernens: Unternehmen sollten diese Lernform nicht als „Allheilmittel“ ansehen. Stattdessen sollte sein Potenzial erkannt und gefördert werden, indem entsprechende Strukturen geschaffen werden und das informelle Lernen mit formalen Lernangeboten verwebt wird. Denn formales Lernen und andere Lernformen werden auch weiterhin in der betrieblichen Weiterbildung wichtig sein, insbesondere im Hinblick auf Compliance-Anforderungen und die erwähnten gesetzlich regulierten Bereiche.