70-20-10 – die Erfolgsformel fürs Lernen?

Neue Software, neue Arbeitsabläufe, neue Teamwork-Skills für die Kollaboration: Die digitalen, fachlichen und sozialen Anforderungen im Beruf verändern sich in einer rasanten Dynamik. An die muss sich auch die Weiterbildung anpassen. Das 70-20-10-Modell bietet hier Orientierung. Lesen Sie, welche Tragweite es hat, und wie es sich im Rahmen eines ganzheitlichen Lernkonzepts umsetzen lässt. 5 Tipps helfen Ihnen dabei, das Lernmodell im Unternehmen zu integrieren.
18. September 2023
8 min

Die Welt dreht sich immer schneller, und in welche Richtung, das ist schon lange nicht mehr vorhersehbar. Das spüren wir im Zuge der Digitalisierung, das spüren wir infolge der Covid-19-Pandemie. Organisationen, die hier noch Schritt halten wollen, müssen eine hohe Anpassungsbereitschaft mitbringen. Doch das gelingt nur, wenn die Mitarbeitenden auf die Anforderungen von morgen vorbereitet werden – mit Lernformen, die wirksam sind und einen zuversichtlichen Blick auf den beschleunigten Alltag unterstützen. 

Klassische Schulungsmethoden reichen nicht

Dass hierfür klassische Schulungsmethoden allein nicht ausreichen, darüber herrscht in den HR-Abteilungen inzwischen Konsens, zumal die „Theorie der Vergessenskurve“ nach Hermann Ebbinghaus ja beweist, wie schnell Gelerntes wieder vergessen wird. Hinzu kommt, dass nicht selten ein großer Teil der Inhalte, die im Rahmen einer Schulung vermittelt wurden, sehr schnell an Aktualität verlieren – sei es durch das nächste Release, neue Gesetzesvorgaben oder Veränderungen im Geschäftsumfeld.  

Wesentlich nachhaltiger sind deshalb ganzheitliche Konzepte, die einen Mix aus formalen und informellen Lernangeboten bereitstellen. Die Frage ist nur: Welches Mischungsverhältnis bringt den größten Erfolg? Hier kommt das Modell „70-20-10“ ins Spiel. Es zeigt, wie vielschichtig sich Lernen im Arbeitskontext gestaltet und wie Lernangebote strukturiert werden sollten, um die Mitarbeiter:innen beim Aufbau der gewünschten Kompetenzen nach Kräften zu unterstützen

Grundlagen von 70-20-10

Das Modell wurde in den 1980er-Jahren von Morgan McCall, Robert W. Eichinger und Michael Lombardo entwickelt: Im Rahmen eines Forschungsprojekts untersuchten die drei Mitarbeitende des US-amerikanischen „Center for Creative Leadership“, wo und wie sich rund 200 Führungskräfte die Kompetenzen für ihren beruflichen Erfolg angeeignet hatten. Die Ergebnisse dieser Studie veröffentlichten die Forscher 1996 in ihrem gemeinsamen Buch „The Career Architect Development Planner“. Demnach erwerben Führungskräfte ihre Kompetenzen 

  • zu 70 Prozent durch die Bewältigung schwieriger Aufgaben und Herausforderungen im Beruf (learning on the job) 
  • zu 20 Prozent durch den Austausch mit Kollegen, Vorgesetzten und Mentoren (learning from other people) 
  • zu 10 Prozent dank klassischer Weiterbildung mithilfe von Büchern oder Seminaren (learning from courses and formal training), in denen sie Wissen aufbauen 

Die Ergebnisse dieser Studie haben das betriebliche Lernen maßgeblich beeinflusst. Viele Organisationen nutzen das 70-20-10-Modell, wenn es um Personalentwicklungsmaßnahmen geht. So setzen beispielsweise die Nachrichtenagentur Reuters, aber auch die Walldorfer Softwareschmiede SAP seit mehr als 20 Jahren darauf, die Mitarbeiter:innen an ihren Aufgaben wachsen zu lassen, indem sie entsprechende Lernumgebungen im Arbeitsprozess schaffen. 

Kritik am 70-20-10-Modell 

Allerdings melden sich regelmäßig auch Kritiker zu Wort. Sie bemängeln zum Beispiel, dass die empirische Basis mit nur 200 Personen viel zu klein sei, um weitreichende Schlussfolgerungen ziehen zu können. Kritisiert wird auch, dass es sich bei den Befragten um eine ausgesprochen homogene Gruppe handle, die sich darüber hinaus durch besonders hohe Motivation und Selbstorganisation auszeichne; die Diversität würde dadurch nicht ausreichend berücksichtigt. Andere stören sich an den allzu glatten Prozentzahlen oder sprechen von einer konstruierten Unterteilung des Lernens in drei Bereiche, die sich in Wirklichkeit überlappen. Gelegentlich wird auch der Vorwurf geäußert, der Erfolg des Modells beruhe lediglich auf der Tatsache, dass die Unternehmen Geld sparen, wenn sie mehr auf Learning on the Job und weniger auf formale Lernangebote setzen. 

70-20-10-Methode bietet Orientierung

Nicht alle Kritikpunkte lassen sich ohne Weiteres von der Hand weisen. Jedoch handelt es sich beim 70-20-10-Modell nicht um eine in Stein gemeißelte Regel mit exakten Vorgaben oder gar um ein Rezept. Vielmehr beschreibt es eine Lernpraxis, die in vielen Unternehmen längst Anwendung findet, ohne dass man sich dessen dort unbedingt bewusst ist. In jedem Fall zahlt es sich aus, sich an 70-20-10 zu orientieren, wenn Sie 

  • moderne Lernangebote praxisnah gestalten, 
  • den Mitarbeitenden mehr Freiraum bieten 
  • sowie größere Selbstverantwortung und Selbstorganisation beim Lernen ermöglichen wollen. 

So funktioniert 70-20-10-Lernen 

Dazu lohnt sich ein genauerer Blick auf die 70-20-10-Verteilung, also darauf, welche Arten des Lernens zusammenspielen sollten: 

70-20-10-Lernmodell: Lernsituationen im Mix
© tts - we empower people

Durch informelles Lernen am Arbeitsplatz werden die größten Lernfortschritte erzielt.

70 Prozent durch Herausforderungen im Beruf 

Durch selbstorganisiertes informelles Lernen am Arbeitsplatz werden die größten und schnellsten Lernfortschritte erzielt. Das heißt: Am meisten lernen die Mitarbeiter:innen, wenn sie schwierige Aufgaben übernehmen und sie die dabei auftretenden Probleme selbstständig lösen. Typische Lernsituationen und signifikante Lernfortschritte entstehen hier durch  

  • herausfordernde Projektarbeit 
  • neue Aufgaben oder Verantwortungsbereiche 
  • Job-Rotation, Positionswechsel oder Arbeit an anderen Standorten 
  • Performance Support mit einer Digital Adoption Platform 

20 Prozent durch Interaktion  

Im Berufsalltag lernen wir darüber hinaus auch im Umgang mit Kollegen, sei es durch Beobachtung, durch Nachahmung oder durch gezieltes Nachfragen, wenn wir Informationslücken schließen oder neue Abläufe und Verhaltensweisen trainieren. Einen wichtigen Stellenwert nimmt hier auch die Online-Interaktion ein, beispielsweise in Team-Chats, mittels Collaboration Tools oder Social Media. Wie beim Lernen durch Herausforderungen handelt es sich auch hier um informelles Lernen im Arbeitskontext. Dazu gehören 

  • Coachings und Mentoringprogramme 
  • Austausch in Communities of Practice, sozialen Netzwerken, Chats und Diskussionsforen 
  • Teamprojekte 

10 Prozent durch klassische Weiterbildung 

Auch wenn es viele überraschen mag: Die formale Weiterbildung trägt nur einen verhältnismäßig kleinen Anteil zum Erwerb von Wissen im Berufsleben bei. Das bedeutet aber nicht, dass man formelles Lernen deshalb vernachlässigen sollte. Ohne formale Trainings hat ein Berufseinsteiger kaum eine Chance, seinen Job effizient auszuüben. Außerdem gelten auch heutzutage formale Schulungen in vielen Fällen immer noch als Grundvoraussetzung für bestimmte Tätigkeiten oder für eine Beförderung. Um die Bedeutung des Lernens durch klassische Weiterbildung als Fundament für weitere Maßnahmen zu unterstreichen, drehen einige Unternehmen die Formel deshalb einfach um und nennen ihren Ansatz 10-20-70-Modell. Zum formalen Lernen gehören 

  • Virtual Classroom-Veranstaltungen und Vor-Ort-Seminare 
  • Online-Assessments 
  • Zertifizierungen 
  • Web-based Trainings 

Personalentwicklung muss umdenken 

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Informelles Lernen geschieht oft unbewusst und basiert auf dem Prinzip des selbstbestimmten Lernens. Für die Personalentwicklung bedeutet dies, dass sie ihre Rolle neu definieren muss. Wie der Mitgründer des 70-20-10-Instituts, Charles Jennings, in seinem Blog schreibt: „Die meisten Elemente des informellen Lernens lassen sich nicht managen, sondern können von HR- oder L&D-Abteilungen allenfalls gefördert werden.“ 

Zunächst müssen die Verantwortlichen verstehen, dass es weniger darum geht, Wissen bereitzustellen, als darum, den Arbeitsplatz als zentralen Lernort zu betrachten. Die HR-Verantwortlichen müssen die passenden Rahmenbedingungen für informelles Lernen schaffen und den Mitarbeiter:innen im Schulterschluss mit den Führungsverantwortlichen im Arbeitsprozess den nötigen Freiraum gewähren. Denn wer vor allem durch praktische Erfahrung lernt, braucht auch Zeit zum Nachdenken, zum Ausprobieren, zum Anwenden und um sich über seine Netzwerke auszutauschen. Das heißt: die Personalentwicklung und Führungsverantwortliche müssen beim Thema Lernen Kontrolle abgeben und zu Enablern, Fördernden und Begleitenden werden. 

5 Tipps: 70-20-10 im Unternehmen integrieren

Das 70-20-10-Modell verlangt ein ganzheitliches Verständnis von organisationalem Lernen. Um das Modell im Unternehmen zu integrieren, können Sie an 5 Stellen ansetzen: 

5 Tipps: So integrieren Sie das 70-20-10-Modell im Unternehmen
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5 Tipps: So integrieren Sie das 70-20-10-Modell im Unternehmen

1. Führungsverantwortliche sensibilisieren und schulen 

HR und Führungsverantwortliche spielen eine wichtige Rolle, damit 70-20-10 erfolgreich umgesetzt wird. Entsprechend müssen die Zuständigen für den Stellenwert des Lernens im Beruf sensibilisiert und über ihren Einfluss auf den Lernprozess informiert werden.  

2. Weiterbildung zur Haltung entwickeln 

Die meisten Maßnahmen, um Wissen im Betrieb aufzubauen, finden als einmaliges oder außergewöhnliches Event statt. Gemäß dem 70-20-10-Modell werden die größten Lernfortschritte jedoch nicht durch temporäre Maßnahmen erzielt, sondern im ständigen Prozess des Problemlösens am Arbeitsplatz. Statt die Mitarbeiter:innen aus dem Arbeitskontext zu reißen und auf Veranstaltungen zu schicken, sollten kontinuierliche Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten gefördert werden – bspw. im Sinne der Learner Journey

3. Lernangebote am Bedarf und an Kompetenzen ausrichten 

Informelles Lernen ist kein willkürlicher Prozess, sondern hängt von den individuellen Kompetenzen des Lernenden ab. Es knüpft an Vorwissen, Erfahrung, Einstellungen und Werte an sowie an Rand- und Rahmenbedingungen. Neueinsteigende und Mitarbeitende, die mit den modernen Lernmöglichkeiten noch nicht vertraut sind, profitieren deshalb besonders von formalen Lernangeboten, die ihnen zu den thematischen Grundlagen verhelfen. Mit wachsender Erfahrung nimmt dann der Bedarf an geführten Lernangeboten ab zugunsten von informellen Angeboten. Mitarbeitende, die damit bereits vertraut sind, organisieren ihren Lernprozess selbstständig und nutzen „on demand“ geeignete Pull-Formate – vom Performance Support über Lernlabore und Barcamps, Feedback-Sessions und Micro-Learning-Nuggets bis zu Working Out Loud. 

4. Lernende fördern und begleiten 

Ein Vorteil des informellen Lernens ist der direkte Bezug zur eigenen Tätigkeit und die Möglichkeit, das Gelernte unmittelbar am bei der Arbeit umzusetzen. Dabei sollten die Mitarbeiter:innen aber nicht sich selbst überlassen bleiben. Ein Coaching oder Sparring mit erfahrenen Lernbegleitenden kann die Effektivität deutlich erhöhen. Und auch die Möglichkeit, von Kollegen im Team oder in Communities of Practice zu lernen, sollte nicht außer Acht gelassen werden.  

In Deutschland immer noch die Ausnahme, aber ein wichtiger Baustein beim selbstbestimmten Lernen am Arbeitsplatz: die Bereitschaft von Organisationen, ihren Mitarbeitenden Lernzeiten zu gewähren, über die sie frei verfügen können, um sich weiterzubilden oder sich ein völlig neues Thema zu erschließen. 

5. Vertrauen statt Kontrolle 

Neues Lernen kann nur in einer Kultur gelingen, die den Mitarbeiter:innen den nötigen Freiraum bietet. Das setzt Vertrauen voraus. Denn das 70-20-10-Modell steht auch für die Erkenntnis, dass jeder Mensch eigenständig und permanent Wissen aufbaut – ohne dass er dafür einen Antrag stellt. In der Praxis funktioniert das jedoch nur, wenn die Führungsverantwortlichen und die Personalentwickler Kontrolle und Entscheidungsmacht abgeben und Raum für selbstorganisiertes Lernen schaffen. Und das erfordert nicht nur den Mut zum Experimentieren, sondern auch eine Kultur des Irrtums, die Scheitern nicht bestraft, sondern als wichtige Lernerfahrung begreift. 

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