Lernen macht glücklich
Manfred Spitzer lockt sein Publikum gerne mit provokanten Thesen aus der Reserve. Zum Beispiel in seiner Keynote auf dem tts Forum, wo er als Einstieg Aufnahmen von drei Gehirnen zeigt. Sie alle unterscheiden sich deutlich von einem normalen Gehirn: Jedem fehlt ein großer Teil der Hirnmasse.
„Der Witz an diesem Beispiel ist der “, so der Hirnforscher, „dass diese drei Menschen klinisch unauffällig sind.“ Bei den Zuhörern macht sich ungläubiges Staunen breit: Im ersten Fall wurde einem jungen Mädchen im Alter von drei Jahren aufgrund einer lebensbedrohlichen Erkrankung die Hälfte des Gehirns entfernt. Vier Jahre später ließ sich aber trotz des Eingriffs keine Einschränkung der Gehirnleistung des Mädchens feststellen.
Sie habe gelernt, ihr Leben mit einer Gehirnhälfte zu meistern, so Spitzer. Und obwohl der Teil entfernt worden sei, in dem das Sprachzentrum sitzt, spreche das Kind zwei Sprachen fließend. „Wenn Sie ohne Sprachzentrum zwei Sprachen sprechen“, fragt Manfred Spitzer in die Runde, „wie viele können Sie dann erst mit Sprachzentrum sprechen?“
Wie lernt unser Gehirn?
Auch die anderen Bilder belegen nach Ansicht des Wissenschaftlers und Buchautors, wie wenig Masse unser Gehirn benötigt, um unauffällig zu funktionieren. „Wenn so etwas geht, warum sind dann 20 Prozent der ‚normalen‘ Menschen unfähig, einen Schulabschluss zu machen?“, fragt der Hirnforscher. „Das liegt dann wohl nicht an den Menschen, sondern an der Schule“, schlussfolgert er gleich selbst.
Anhand mehrerer Abbildungen von Nervenzellen erklärt er als Nächstes die grundlegenden Funktionsweisen des Gehirns. „Synapsen, Neuronen, Neurotransmitter – heute lernt jeder Gymnasiast, wie der Prozess im Nervensystem abläuft.“ Interessant sei allerdings, was diese Schüler nicht lernen: „Nämlich, was das Ganze soll.“
Besonders spannend sei doch, warum man Synapsen benötigt bzw. warum der elektrische Impuls in Synapsen auf chemischem Wege übertragen wird. Eine Billiarde Synapsen hat der Mensch in seinem Gehirn – eine eins mit 15 Nullen. Und je häufiger eine Synapse benutzt wird – also ein Impuls von ihr übertragen wird –, desto stärker verändern sich ihre Form und ihre Verbindungen zu anderen Nervenzellen.
Ist unser Gehirn eine Festplatte?
„Genau das ist Lernen“, sagt der Hirnforscher. Eine wichtige Schlussfolgerung aus dieser Erkenntnis ist, dass das Gehirn für das Auswendiglernen von Einzelheiten nicht geeignet ist. „Für das Fakten lernen sind wir nicht konstruiert“, betont Spitzer. „Ihr Gehirn ist keine Festplatte, kein Kassetten- oder Videorekorder.“
Das ist die schlechte Nachricht. Der Hirnforscher hat aber auch eine gute: „Ihr Gehirn ist besser als eine Festplatte!“ Warum das so ist, erläutert Manfred Spitzer anhand des Beispiels, wie ein Baby laufen lernt. Auf den ersten Blick scheint das ein simpler Vorgang zu sein. Die Komplexität dieses Lernprozesses wird erst deutlich, als Forscher versuchen, einem Roboter das Gehen auf zwei Beinen beizubringen.
Spätestens dann wird klar, wie viel Arbeit hinter diesem Lernprozess steckt. Beim Baby erledigt das Gehirn diese Arbeit. Das Baby zieht sich hoch und fällt hin – immer wieder aufs Neue. Wochenlang übt das Kind, ohne aufzugeben, bis es irgendwann endlich klappt. „Ich kenne kein Baby, das sich nach zwei Monaten gedacht hat: Ich schmeiß’ es jetzt, das ist mir zu anstrengend“, lacht Spitzer.
Würde das Gehirn Fakten abspeichern, liefe der Prozess ganz anders ab. „Also, wie lernt ein Baby laufen?“, fragt der Mediziner in die Runde. „Ganz einfach: von Fall zu Fall.“ Was sich witzig anhört, ist absoluter Ernst im Lernprozess. Denn anhand der Einzelfälle werden Zusammenhänge erkannt und vom Gehirn abgebildet. Ganz wesentlich ist die Erkenntnis, dass dieser Prozess ganz von allein abläuft. Das Gehirn kann gar nicht anders, als zu lernen.
Das Erlernen der Sprache funktioniert nach dem gleichen Prinzip. Experimente haben gezeigt, dass ein Baby bereits ab dem Alter von sieben Monaten die Grammatik seiner Muttersprache lernt. Damit ein Kind mit sechs in die Schule gehen kann, ist es sogar essenziell, dass der Lernprozess so früh einsetzt.
Für den Laien erstaunlich ist allerdings, dass Kinder wie Erwachsene Grammatikregeln richtig anwenden, ohne diese aktiv formulieren zu können. Den Beweis für diese Theorie erbringt der Hirnforscher postwendend, indem er mit dem Publikum ein kleines Gedankenexperiment macht.
Inhalt des Versuchs ist die von Spitzer selbst formulierte Regel, dass Verben, die auf „-ieren“ enden, das Partizip nicht mit „ge-“ bilden. Ohne darüber nachzudenken, wendet das Publikum diese Regel sogleich auch bei Kunstwörtern „intuitiv“ richtig an. „Ihr Gehirn beherrscht diese Regel“, erklärt der Hirnforscher den gelungenen Versuch. „Es lernt dauernd Regeln, ob Sie das wissen oder nicht. Das Gehirn kann gar nicht anders, es ist sein Job. Genau dafür haben wir die eine Billiarde Synapsen.“ Das Gehirn lernt also immer. Nur leider lernen Kinder nicht immer das, was Erwachsene oder Lehrer für nützlich erachten.
Lernen hinterlässt Spuren im Gehirn – gute und schlechte
Neueren Studien zufolge ist jedoch die häufige und intensive Mediennutzung oder auch die gleichzeitige Nutzung unterschiedlicher Medien für die Lernfähigkeit des Gehirns schädlich. „Multitasking fördert vor allem eines: die Unaufmerksamkeit“, so Spitzer. Auch die in Deutschland durchschnittliche Bildschirmzeit von 5,5 bis 6,5 Stunden pro Tag gibt aus Sicht von Professor Spitzer Anlass zur Sorge. Er vertritt die Meinung, dass wir unser Gehirne dadurch „vermüllen“, was langfristig Konsequenzen für unsere Gesellschaft und Wirtschaft haben kann.
Angesichts der Erkenntnisse aus der Hirnforschung warnt er vor dem zunehmenden Einsatz elektronischer Medien gerade im Schulunterricht. Grund für diese Warnung ist die Erkenntnis der Neurologie, dass Erfahrungen in unserem Gehirn „Spuren“ hinterlassen. „Seit 2003 wissen wir, dass es sich auf ‚Trampelpfaden’ besonders gut läuft“, erläutert Spitzer. „Eine bestimmte Spur wird nicht deshalb genommen, weil sie die beste Problemlösung darstellt, sondern einfach weil sie schon vorhanden ist.“ Deshalb ist es auch viel leichter, sich eine schlechte Gewohnheit gar nicht erst anzugewöhnen als sie sich wieder abzugewöhnen. Eine neue Spur zu legen – also zu lernen und zu denken –, ist dagegen richtig aufwendig.
Vernetzung ist alles – oder wie Mathe mit den Fingern zusammenhängt
Basis für das erfolgreiche Lernen ist die Vernetzung der verschiedenen Einheiten im Gehirn. Für diese neurologische Erkenntnis führt Manfred Spitzer verschiedene Fälle an, die belegen, dass das Gehirn vernetzt funktioniert. Beispielsweise sind Sehen und Motorik eng miteinander vernetzt, weshalb etwa Probanden für das Greifen eines Holzklötzchens, das mit der Ziffer Acht versehen ist, die Greiffinger anfangs weiter öffnen als für das Greifen des Klötzchens mit der Zahl Zwei – schließlich ist acht größer als zwei.
Noch besser kann man den Zusammenhang an der Verknüpfung von Fingerspielen mit mathematischen Fähigkeiten ablesen. Die meisten Menschen lernen das Zählen mithilfe ihrer Finger. Internationaler Konsens ist das Zählen bis zehn mit zwei Händen. Einzige Ausnahme sind die Chinesen, die an einer Hand bis zehn zählen können und erst ab der Elf die zweite Hand benötigen. Der Handwechsel hat Auswirkungen auf die Schnelligkeit beim Rechnen. Experimente zeigen: Je größer die Zahl, desto länger dauert das Rechnen.
Die Verknüpfung von Fingermotorik und Mathematik kann man auch bei Schlaganfallpatienten beobachten: Immer dann, wenn ein Patient nach einem Schlaganfall seine Finger schlecht bewegen kann, ist auch seine Rechenfähigkeit eingeschränkt. Eine weitere Erkenntnis: Je mehr Fingerspiele ein Kind im Kindergarten macht, umso besser ist es später in Mathematik. „Wenn Sie also wollen, dass Ihr Kind später gut in IT wird, dann sollte es im Kindergarten keinen Laptop haben“, warnt der Mediziner.
Diesen grundsätzlichen Zusammenhang zwischen Motorik und Sehen hat das Team von Professor Spitzer in einer eigenen Studie untersucht. Heraus kam, dass die Vernetzung der Hirnregionen, die für das Sehen und die Motorik zuständig sind, einen eklatanten Einfluss auf die Denkgeschwindigkeit hat. Hintergrund dafür ist, dass beide Hirnregionen je einen Drittel des Gehirns ausmachen.
Lernt ein Proband, seine Seh- und Motorikfähigkeit gleichzeitig zu aktivieren, dann arbeiten beim Denken zwei Drittel seines Gehirns. „Es hängt von der Art des Trainings ab, wie Sie hinterher denkend mit einem Sachverhalt umgehen können“, resümiert der Hirnforscher den Studieninhalt. „Es ist also nicht egal, ob Ihre Kinder im Kindergarten die Welt mittels eines Mausklicks erfahren oder mittels ihrer Motorik im wahrsten Sinne des Wortes begreifen.“
Nicht zuletzt diese Erkenntnis bewegt beispielsweise Familienunternehmen immer häufiger dazu, bereits in einem eigenen Betriebskindergarten mit der „Personalentwicklung“ zu beginnen. Der Einsatz von Computern sollte dabei tunlichst vermieden werden, denn Computer übernehmen die Denkarbeit für den Lernenden. Doch wer sich nicht anstrengen muss, der lernt weniger und wird später in seiner Denkleistung langsamer sein.
Über den positiven Effekt vom Einsatz von Computern auf das Lernverhalten von Schülern sind derzeit noch keine Studien verfügbar. Dafür gibt es jede Menge Untersuchungen dazu, wie sich die Lebensumgebung auf die Entwicklung der kindlichen Intelligenz auswirkt. Beispielsweise besagen Adoptionsstudien, dass der sozioökonomische Status der adoptierenden Familie Einfluss auf die Höhe des IQ hat.
Zusätzlich macht der Bildungsstand der Person viel aus, die sich vornehmlich um das Kind kümmert. „Der Effekt eines guten Kindergartens auf die Bildung ist etwa so groß wie der Effekt des Rauchens auf die Krankheit Lungenkrebs: sehr hoch“, betont der Hirnforscher. Mehr Geld in Bildung zu investieren ist daher für Manfred Spitzer eine absolute Notwendigkeit.
Hans und Hänschen
Aber stimmt auch das alte Sprichwort „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“? Dazu muss man zunächst wissen, dass sich die Synapsen im Laufe des Lebens verändern. Das hat zur Folge, dass Zehnjährige noch sehr schnell lernen, während es danach rapide bergab geht: Schon 17-Jährige lernen deutlich langsamer. Im Kindergarten oder in der Kita ist die Lernkurve am steilsten, sie sinkt jedoch in der Schule und später im Erwachsenenalter immer weiter ab.
Noch ein Grund mehr für den Hirnforscher, Geld vor allem in die frühkindliche Förderung zu stecken. „Das Gehirn ist kein normaler, sondern ein paradoxer Schuhkarton“, so Manfred Spitzer. „Je mehr drin ist, desto mehr passt rein!“ Deshalb lernt auch ein Erwachsener ganz anders als ein Kind. Kann beispielsweise ein Erwachsener bereits fünf Sprachen, dann lernt „Hans“ die sechste Sprache schneller als „Hänschen“.
Kann der Erwachsene aber erst eine Sprache und soll eine weitere lernen, ist Hänschen dabei im Vergleich viel schneller als Hans. „Wenn Sie mit 20 Jahren noch nichts gelernt haben, dann lernen Sie auch in Zukunft nichts mehr“, provoziert der Hirnforscher das Auditorium augenzwinkernd. „Lebenslanges Lernen muss daher unbedingt schon im Kindergarten und in der Schule beginnen.“
Die Rolle von Emotionen beim Lernen
Emotionen haben einen großen Einfluss auf das Lernverhalten. Im Falle von Angst ist die Funktion des sogenannten Mandelkerns entscheidend für die Art der Reaktion. Am Beispiel eines Spaziergängers, der im Wald auf eine Schlange trifft, erläutert Manfred Spitzer den Reaktionsablauf: Über das Sehorgan registriert der Spaziergänger, dass eine Schlange vor ihm auf dem Weg liegt. Doch noch bevor der Spaziergänger tatsächlich realisiert, was er da sieht, hat der Mandelkern die Gefahr bereits erkannt und eine entsprechende Reaktion eingeleitet. Der Mandelkern sorgt also dafür, dass der Mensch nicht lange überlegt, , sondern mit einer einfachen körperlichen Reaktion, nämlich Wegrennen, das Überleben sichert. In anderen Zusammenhängen nennt man diesen Vorgang „Blockade“.
Unter Angst zu lernen blockiert das kreative Erarbeiten von Lösungen; das Entstehen von Angst sollte deshalb im Unterricht oder in Schulungen verhindert werden. Als Beispiel führt der Hirnforscher das Fach Mathematik an, mit dem viele Schüler Probleme haben, weil es als sogenanntes Angstfach gilt.
Auch ein Zusammenhang zwischen Denkfähigkeit und Farben ist nachgewiesen, da der Mensch mit Farben bestimmte Emotionen verbindet. Der Mandelkern zum Beispiel wird bei Rot aktiv, weil er damit Gefahr verknüpft. Rot verhindert also kreatives Denken und behindert das Finden kreativer Lösungen. Eine Schlussfolgerung kann daher sein, dass man bei kreativen Aufgaben weniger ängstlich sein sollte, während Angstgefühle bei der Fehlersuche helfen, weil sie nachweislich zu einem genaueren Arbeiten führen.
Lernen macht glücklich
Zum Abschluss seines spannenden Vortrags berichtet der Hirnforscher über die Auswirkungen von positiven Emotionen auf das Lernen. Verantwortlich für positive Gefühle ist das sogenannte Glückszentrum. Ist es aktiviert, werden unterschiedliche Stoffe ausgeschüttet, unter anderem eine große Menge Dopamin, das wiederum Lernprozesse beschleunigt.
„Wenn Ihr Glückszentrum anspringt, dann lernen Sie also besonders schnell“, so Spitzer. Doch das Glückszentrum springt nur dann an, wenn etwas Positives in Form einer neuen Erkenntnis passiert. „Was also aktiviert wird, ist gar nicht Ihr Glückszentrum, sondern Ihr Lernzentrum“, klärt der Mediziner das Publikum auf. „Dauerglück ist allerdings nicht möglich.“
Bestes Beispiel ist das in unserer Gesellschaft beliebte Shoppen. Experten nennen es die „hedonistische Tretmühle“: Die Menschen kaufen ständig ein, weil sie gerne glücklich sein möchten. Dieses Glücksgefühl hält aber erwiesenermaßen nicht länger als zehn Sekunden an, schon beim Bezahlvorgang ist es schon wieder vorbei mit dem Glück. Trotzdem gilt: „Tief in unserem Gehirn sind Glück und Lernen aufs Engste miteinander verknüpft“, schließt Manfred Spitzer seinen Vortrag. „Dauerglück ist nicht möglich, aber Glück immer wieder. Und das erreichen Sie durch Lernen.“