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Die E-Akte: Wenn aus einem Software-Projekt ein Kulturwandel wird

Die Einführung der elektronischen Akte (E-Akte) wird häufig als typisches Softwareprojekt betrachtet. Doch die Realität zeigt: Wer nur an Technik denkt, übersieht das Wesentliche. Eine erfolgreiche E-Akte-Einführung verändert Prozesse, Kommunikation und Arbeitsweisen – kurz: Sie bewirkt einen Kulturwandel.

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26. August 2025
5 min
Thomas Jähnig, Public Sector Learning Solutions @ tts
Thomas Jähnig

Ist die Einführung der elektronischen Akte ein gewöhnliches Software-Einführungsprojekt?

Wenn Sie das denken, sollten Sie diesen Artikel lesen. 

Nein, die E-Akte ist weit mehr als nur eine technische Neuerung. Die Arbeit mit elektronischen Akten verändert die bisherigen Arbeitsweisen der Beschäftigten von Grund auf. Um das wahre Ausmaß dieser Transformation zu verstehen, lohnt ein Blick zurück in die klassische Bearbeitung – und nach vorn in die digitale Realität von heute.

Traditionelle papiergebundene Vorgangsbearbeitung: Eine Welt der Spezialisten

In der sehr arbeitsteilig organisierten, papiergebundenen Vorgangsbearbeitung waren für die Aktenbildung spezielle Fachkräfte zuständig: die Registratoren. Sie beherrschten die komplexen Werkzeuge und Hilfsmittel der Schriftgutverwaltung wie selbstverständlich – Aktenplan, Aktenverzeichnisse, ein ausgeklügeltes System aus festen und freien Ableitungen, die präzise Bildung von Akten- und Geschäftszeichen.

Ging ein Schreiben in der Behörde ein, wurde es zunächst – noch bevor es die eigentliche Bearbeitung erreichte – den Registratoren zugeschickt. Diese lasen die Dokumente sorgfältig, erfassten den Inhalt der Schriftstücke und suchten einen passenden Vorgang aus dem bestehenden Aktenbestand heraus. Dann vereinigten sie das Schriftstück mit der entsprechenden Akte und leiteten den gesamten Vorgang an die Bearbeitungsebene weiter. War für den Posteingang kein bestehender Vorgang zu identifizieren, wurde kurzerhand ein neuer Vorgang angelegt und mit einem eindeutigen Aktenzeichen versehen. Erst dann erhielt die Bearbeitungsebene das Schreiben.

Dieses Verfahren hatte viele unbestreitbare Vorteile. Die Bearbeitungsebene musste sich mit formalen Aspekten der Aktenbildung überhaupt nicht beschäftigen. Aktenpläne und Aktenzeichen waren für die Bearbeitung völlig unerheblich, da diese komplexe Arbeit von den Registraturfachkräften routiniert erledigt wurde. Diese eingespielten und über Jahrzehnte bewährten Prozesse erodierten jedoch bereits vor der flächendeckenden Einführung elektronischer Akten.

Das hybride Chaos – Vorgangsbearbeitung via E-Mail und MS-Office

Warum? Seit mehr als 30 Jahren kommunizieren Verwaltungsangehörige intern sowie mit externen Kommunikationspartnern längst nicht mehr über die klassische Papierpost, sondern über E-Mail. Entwürfe, Antwortschreiben oder Aktenvermerke werden von den Beschäftigten selbst in ihren Office-Umgebungen erstellt. Die dazugehörigen E-Mails werden in persönlichen Ordnern abgelegt und mit den elektronischen Dokumenten aus dem Bearbeitungszusammenhang verbunden. Diese selbst gebildeten Vorgänge werden in individuellen Verzeichnissen nach ganz persönlicher Systematik archiviert.

Damit werden unverzichtbare Ziele der behördlichen Schriftgutverwaltung stillschweigend aufgegeben: 

  • Die individuellen Ablagen sind für den Inhaber transparent, nicht aber für die Behördenöffentlichkeit. Oft ist der Zugriff im Vertretungsfall bei Krankheit, Urlaub oder gar beim Ausscheiden des Beschäftigten – alle persönlichen Laufwerke und Ablagen werden gelöscht – nicht mehr möglich.
  • Eine umfassende Recherche im Aktenbestand ist erheblich erschwert, da kein einheitliches Ablagesystem existiert.
  • Vielfach werden Dokumente redundant in verschiedenen Akten abgelegt.
  • Eine Aussonderung nicht mehr benötigter Akten und die gesetzlich vorgeschriebene Anbietung von Akten nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist an das Archiv ist nur mit hohem Aufwand oder gar nicht mehr möglich.

Leider ist die Kompetenz für Fragen der Schriftgutverwaltung in den meisten Behörden heute mangelhaft. Dies ist nicht nur ein gravierender Mangel, sondern berührt den rechtsstaatlichen Kern des Verwaltungshandelns: die Bindung der Verwaltung an Recht und Gesetz. Nach Art. 20 Grundgesetz sind die Behörden an Recht und Gesetz gebunden – und dies ist nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nur möglich, wenn behördliche Entscheidungen vollständig dokumentiert und der gesamte Sachzusammenhang aus der Akte ersichtlich ist. Erst damit wird Verwaltungshandeln durch ein Gericht überprüfbar.

Die E-Akte stellt die ordnungsgemäße Aktenführung wieder her

E-Akte-Systeme zwingen die Nutzer konsequent zur Einhaltung der Regeln einer ordnungsgemäßen Aktenführung. Dokumente und Akten werden nicht mehr nach individuellen Konventionen abgelegt, sondern nach im E-Akte-System fest hinterlegten Regeln. Jedes Dokument wird mit einem Akten- bzw. Geschäftszeichen versehen, das aus einem im System hinterlegten Aktenplan automatisch generiert wird. 

Das Problem: Die meisten Bearbeiterinnen und Bearbeiter sind es nicht gewohnt, mit Aktenplänen zu arbeiten. Da Registraturfachkräfte zunehmend abgebaut werden, sind die Bearbeiterinnen und Bearbeiter bei der Aktenbildung und der Geschäftszeichenbildung plötzlich auf sich allein gestellt.

Die Einführung einer E-Akte ist hochgradig akzeptanzkritisch

E-Akte-Systeme zwingen Anwenderinnen und Anwender kompromisslos zur Einhaltung der vom System vorgegebenen Regeln. Um zu verhindern, dass Dokumente, Vorgänge und Akten außerhalb des E-Akte-Systems angelegt werden können, sind die Möglichkeiten stark eingeschränkt, Unterlagen außerhalb des Systems abzulegen. Auch gewohnte Abstimmungen per Mail werden erschwert, sofern sie vorgangsrelevant sind. 

Für die Anwenderinnen und Anwender ist daher die sichere Beherrschung des E-Akte-Systems und eine gründliche Kenntnis der komplexen Regelwerke – Registraturanweisungen und Geschäftsordnungen – von existenzieller Bedeutung. Die so durch das E-Akte-System verursachten zusätzlichen Bearbeitungsschritte werden von den Betroffenen nicht selten als massive Einschränkung oder gar Gängelung empfunden. 

Die Einführung eines E-Akte-Systems setzt daher zwingend ein durchdachtes Change-Management-Konzept voraus. Innerhalb dieses Konzeptes kommt der funktionalen Softwareschulung sowie der umfassenden Qualifizierung der Betroffenen zu Fragen der behördlichen Schriftgutverwaltung und der behördlichen Bearbeitungs- und Kooperationsprozesse entscheidende Bedeutung zu.

E-Akte-Einführung: Wenn Ängste den Projekterfolg gefährden

Die durch das E-Akte-System erzwungene grundlegende Veränderung der Arbeitsweise und der Rolle der Bearbeitung kommt einem regelrechten Kulturwandel gleich. Ohne eine Einführungsstrategie, die dem Change-Management den gebührenden Platz einräumt, drohen selbst technisch perfekte Projekte zu scheitern. 

Die Bearbeitung von Vorgängen ist schließlich der Kern des Verwaltungshandelns. Werden die Behördenbeschäftigten bei der Arbeit mit dem E-Akte-System nicht angemessen unterstützt, beteiligt und informiert, werden unweigerlich Ängste erzeugt, die den gesamten Projekterfolg gefährden können. 

Leider berücksichtigen viele Systemanbieter diese kritischen Aspekte viel zu wenig und bieten oft nur oberflächliche, funktionale Softwareschulungen an. Arbeitsplatzbegleitende Unterstützung während der entscheidenden Einarbeitungsphase sowie umfassende organisatorische Qualifikationsmaßnahmen unterbleiben häufig. Gelegentlich sind solche gravierenden Defizite aber auch von den einführenden Behörden selbst verursacht. Ein angemessenes Change-Management verursacht zunächst Kosten, für die keine Haushaltsmittel eingeplant wurden. 

Dabei amortisieren sich Investitionen für eine umfassende, angemessene Einführungsstrategie schnell. Das teuerste IT-Einführungsprojekt ist und bleibt ein gescheitertes Projekt.

Führungskräfte: Die Schlüsselfiguren der Transformation

Ganz besonders entscheidend ist in diesem komplexen Transformationsprozess die jeweilige Führungskraft. Führungskräfte von der Referatsleitung bis zur Hausspitze müssen genau wissen, welche Ängste und Unsicherheiten die Einführung einer E-Akte bei den Beschäftigten hervorruft. Führungskräfte sollten mit gutem Beispiel vorangehen und die E-Akte-Systeme selbst aktiv und überzeugend nutzen. 

Gleichzeitig sollten sie ihre Beschäftigten dadurch nachhaltig unterstützen, dass ausreichend Haushaltsmittel für ein umfassendes Change-Management zur Verfügung gestellt werden. Ein gelungenes E-Akte-Projekt setzt die aktive Förderung durch die Leitungsebene und alle Führungskräfte zwingend voraus.

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