Karriere für alle? Talent Management im Zwiespalt
Noch immer investieren viele Unternehmen den Großteil ihres Trainings- und Weiterentwicklungsbudgets in wenige High Potentials und Top-Performer:innen. Diese Strategie war lange Zeit auch durchaus erfolgreich im Kampf um die besten Köpfe. Schließlich sind Mitarbeitende, die sich für Führungsaufgaben oder Schlüsselpositionen eignen, rar gesät. Die ungleiche Ressourcenverteilung schien bislang gerechtfertigt. Sie basiert auf der Annahme, dass die wenigen, dafür aber besonders leistungsfähigen und hochqualifizierten sogenannten A-Player:innen exponentiell mehr zur Wertschöpfung und zum Unternehmenserfolg beitragen als der Rest der Mitarbeitenden.
Exklusives Talent Management nicht mehr zeitgemäß?
In immer mehr Unternehmen keimen jedoch Zweifel, ob dieses „exklusive“ Talent Management noch zielführend ist. Durch die Klassifizierung der Beschäftigten in „wertvoll“ oder „weniger wertvoll“ wird die Mehrzahl der Mitarbeitenden von den Angeboten des Talent Management ausgeschlossen (exkludiert). Tatsächlich erscheint die Fokussierung auf wenige Spitzenkräfte heutzutage als zu einseitig, unter bestimmten Aspekten sogar als kontraproduktiv. Der Grund dafür sind die aktuellen Rahmenbedingungen: der verstärkte Fachkräftemangel, veränderte Wertvorstellungen und die sich rasant beschleunigende Marktdynamik. Außerdem lässt sich infolge der fortschreitenden Digitalisierung der Arbeitswelt nur schwer absehen, welche Schlüsselkompetenzen morgen überhaupt gefragt sein werden.
Teurer Luxus: am Bedarf vorbei investiert
Der Arbeitsmarkt verändert sich. Es entstehen neue Kompetenzanforderungen und damit häufig auch neue Stellenprofile. Allerdings betrifft das nicht nur die Top-Performer:innen und High Potentials, auf allen Leistungsebenen fehlen Mitarbeitende mit den entsprechenden Kompetenzen. Auch die im toten Winkel des exklusiven Talent Management liegen, wie etwa Blue Collar Worker in der Produktion oder der Logistik werden händeringend gesucht.
Zwar wird in den kommenden Jahren im Rahmen der digitalen Transformation insbesondere im Bereich der gering Qualifizierten eine beträchtliche Anzahl von Tätigkeiten „wegautomatisiert“ werden (vgl. OECD-Studie), dennoch können laut einer Studie des McKinsey Global Institute künftig zahlreiche Stellen nicht besetzt werden, hauptsächlich aufgrund der demografischen Entwicklung. Andere Aufgaben entfallen nicht einfach, sie verändern sich – Beispiel Berufskraftfahrer: Selbst wenn irgendwann nur noch selbstfahrende Lastwagen unterwegs sein sollten, wird noch ein Mensch im Führerhaus sitzen.
Die Folge: Die Kluft zwischen Arbeitskräftebedarf und -angebot wächst. Schon jetzt schlägt die Industrie in Deutschland Alarm: Laut dem KfW-ifo-Fachkräftebarometer vom November 2021 klagen über 43 Prozent der Unternehmen über eine Beeinträchtigung der Geschäftstätigkeit aufgrund von fehlendem Fachpersonal. Betroffen sind alle Wirtschaftsbereiche und Unternehmen jeder Größe.
Wir müssen draußen bleiben: Frust statt Motivation
Darüber hinaus rückt die Kehrseite des exklusiven Talent Management verstärkt in den Blickpunkt: dass nämlich für die Mehrheit der Beschäftigten nur ein Bruchteil der im Unternehmen vorhandenen Ressourcen für Weiterbildung zur Verfügung steht. Der reicht gerade mal für das Pflichtprogramm, und das ist zu wenig in Zeiten, in denen die Mehrzahl der Mitarbeitenden berufliche Entwicklung und Karriere entsprechend ihrer individuellen Neigungen und Bedürfnisse lieber selbst in die Hand nehmen will.
Auch im Talent Management ist daher der „X-Faktor“ gefragt, also ein Human Experience Management (HXM) mit personalisierten Angeboten statt standardisierter Personalverwaltung (HCM). Es ist erwiesen, dass Unternehmen mit einer guten Employee Experience produktiver, effizienter und verkaufsstärker sind als Wettbewerber mit einem schwachen Employee Engagement. Da, wo berufliche und persönliche Entwicklungsperspektiven fehlen, fühlen sich die Mitarbeitenden nicht wertgeschätzt oder trotz beständig guter Arbeit gegenüber den wenigen geförderten „Talenten“ benachteiligt. Demotivation, sinkende Leistungsbereitschaft und eine geringere Identifikation mit den Unternehmenszielen drohen.
Exklusiv vs. inklusiv: Wer ist überhaupt ein Talent?
Angesichts dessen ist eine Debatte darüber entbrannt, welche Mitarbeitenden in das Talent Management einbezogen werden sollen. Wer ist überhaupt ein Talent?
Fest steht: Das Talent Management muss sich neu orientieren, will es dem Anspruch genügen, den Bestand an Fachkräften zu sichern und gleichzeitig eine gute Employee Experience zu gewährleisten. Als Alternative zu einem „exklusiven“ Talent Management gewinnt daher das „inklusive“ Talent Management an Bedeutung.
Damit prallen zwei gegensätzliche Auffassungen aufeinander. Während das exklusive Talent Management gezielt einzelne Mitarbeitende fördert, bezieht das inklusive Talent Management alle beziehungsweise die Mehrzahl der Mitarbeitenden ein. Die Annahme dahinter: Jede Person verfügt über Potenziale und Stärken. Es kommt jedoch darauf an, dass die Stelle zur Person passt, damit sie ihr ganzes Potenzial dort entfalten kann und eine optimale Leistung erbringt.
Talent Management für alle: der Weg der Zukunft?
Unternehmen und Organisationen, die ein inklusives Talent Management betreiben, bieten allen Mitarbeitenden die Möglichkeit zu Weiterbildung und damit Karrierechancen, ganz nach dem Motto: Karriere für alle! Dadurch weitet sich der Kreis der in eine berufliche Förderung und in die Nachfolgeplanung einbezogenen Mitarbeitenden auf Gruppen aus, die beim exklusiven Talent Management ausgeschlossen wären.
Das inklusive Talent Management setzt auf Vielfalt und Gleichberechtigung, also auf Werte, die gerade bei den Jüngeren, Generation Y und Z, eine große Rolle bei der Entscheidung für einen Arbeitgeber spielen und, die, aktuellen Studien zufolge, ein Unternehmen innovativer, anpassungsfähiger und erfolgreicher machen. So beobachtet beispielsweise Gartner eine um zwölf Prozent höhere Performance der Mitarbeitenden in Unternehmen mit einem diversen Arbeitsumfeld.
Befürworter:innen des inklusiven Talent Management verweisen darüber hinaus auf die positiven Effekte des stärkenbasierten Ansatzes. Dieser geht davon aus, dass Menschen, die ihre Talente und Neigungen bei der Arbeit entfalten können, zufriedener sind und sich wohler fühlen. Die Employee Experience wird verbessert. Zudem ist die intrinsische Motivation höher, und das Lernen fällt leichter – wesentliche Punkte, die gerade im Hinblick auf die disruptiven Veränderungen in einer zunehmend digitalisierten Arbeitswelt und auf die Notwendigkeit von lebenslangem Lernen eine entscheidende Rolle spielen.
Allerdings: Auch wenn ein Unternehmen ein eher inklusives Talent Management praktiziert, heißt das noch lange nicht, dass die Mitarbeitenden es auch als fair und inklusiv wahrnehmen. Besonders dann nicht, wenn das Unternehmen sein Versprechen von „Inclusion and Diversity“ in der täglichen Praxis nicht konsequent einhält oder es versäumt, zu kommunizieren, warum manche Mitarbeitende dennoch vom Talent Pool ausgeschlossen bleiben. Ein solches Verhalten wird als Vertragsbruch empfunden und kann zu sinkender Loyalität und Performance der Mitarbeitenden führen.
Welches Talent Management ist das richtige?
Bis vor Kurzem haben vorrangig kleine und mittelgroße Unternehmen (KMU) inklusives Talent Management praktiziert, auch wenn sie es nicht unbedingt strukturiert anwenden und es zum Teil gar nicht als Talent Management bezeichnen. Langsam beginnt es aber auch in den großen Unternehmen Fuß zu fassen. Kulturell ist das inklusive Talent Management eher in der DACH-Region verankert, während im angelsächsischen Raum das exklusive Talent Management dominiert.
Ob exklusives oder inklusives Talent Management – jeder Ansatz hat seine Stärken und Schwächen. Und beide haben entscheidende Auswirkungen auf die Attraktivität eines Unternehmens als Arbeitgeber sowie auf seine Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit. Für manche ist daher vielleicht kein „Entweder-oder“-, sondern ein hybrider Ansatz genau der richtige.